Der unsterbliche Bolero wird zum Requiem – und nicht nur IOC-Chef Thomas Bach ist erschüttert. Der Fall Walijewa und seine Folgen.
Peking (SID) Thomas Bach ist nicht unbedingt für emotionale Statements bekannt, doch dieses Mal war der IOC-Präsident sichtlich betroffen. Ihm sei es „kalt über den Rücken gelaufen“, sagte Bach, als er gesehen habe, wie Kamila Walijewa nach dem geplatzten Traum vom Eiskunstlauf-Gold in Peking von ihrem Team empfangen wurde: „Kann man so gefühlskalt sein gegenüber seinen eigenen Sportlern?“
Man kann, zumindest kann es Walijewas Trainerin Eteri Tutberidse. Die als eiskalt und gnadenlos verrufene frühere Eistänzerin zog ihre 15 Jahre alte Meisterschülerin nicht etwa unter den Trümmern des Bolero hervor, sie zischte sie stattdessen an: „Warum hast du alles so aus den Händen gegeben? Warum hast du aufgehört zu kämpfen? Erklär‘ mir das! Nach dem Axel hast du es aus den Händen gegeben.“
In Russland rief das keine Kritik hervor, und Thomas Bach ließ man einfach abblitzen. Der IOC-Präsident sei eine Autorität in der Welt des Sports, „und daher respektieren wir seine Meinung, aber wir müssen nicht zwangsläufig damit übereinstimmen“, sagte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow. Sportminister Oleg Matyzin nannte es „diskutierbar, das Verhalten einer Trainerin und ihrer Athletin sowie deren Beziehung zueinander“ anhand von TV-Bildern zu beurteilen. Bachs Kommentare hätten „zurückhaltender“ sein sollen.
Die großen Namen der Szene waren dafür hinter dem IOC-Chef vereint. „Liebe, süße Kamila“, schrieb Paarlauf-Olympiasiegerin und Eurosport-Expertin Aljona Savchenko bei Instagram: „Ich bin sicher, dass alles, was du durchgemacht hast, dich nur stärker machen wird. Du bist einzigartig, ein Talent wie du ist selten.“ Savchenko bot Hilfe und Unterstützung an: „Du kannst dich jederzeit an mich wenden.“
Katarina Witt brach im ARD-Studio in Tränen aus, als sie das Drama um Walijewa live kommentierte. „Was jetzt passiert ist, ist das Allerschlimmste, sie ist daran zerbrochen“, sagte die zweimalige Olympiasiegerin: „Man hat sie der Welt zum Fraß vorgeworfen, und alle haben zugesehen.“
Maurice Ravels Bolero, 1984 in Sarajevo von Jayne Torvill und Christopher Dean für alle Ewigkeit auf goldener Spur ins olympische Eis gezaubert, wurde für Kamila Walijewa zum Requiem. „Eine kalte Tragödie von Missbrauch und Schmerz“, schieb Yahoo Sports, und die Washington Post sah „Kamila Walijewa als trauriges Vermächtnis der Peking-Spiele“.
Und jetzt also die Altersgrenze als von Witt und Co. ausgerufenes Allheilmittel zum Schutz kindlicher Sprungwunder? Der Eislauf-Weltverband ISU will auf seinem Kongress im Juni über ein Mindestalter von 17 Jahren abstimmen, und auch das IOC ist offen für eine Diskussion. „Wir haben angefangen, in der Exekutive darüber nachzudenken“, sagte Bach: „Es gibt Themen, die besprochen werden müssen, die betreffen Minderjährige in Wettbewerben von Erwachsenen.“
Nun ist es aber nicht so, dass Eiskunstläuferinnen die olympische Bühne stets erst weit jenseits der 15 betraten. US-Wunderkind Tara Lipinski wurde 1998 in Nagano mit 15 Jahren zur bis heute jüngsten Olympiasiegerin in der Geschichte der Sportart. Der Unterschied zu Walijewa: Lipinski, 1997 bereits als 14-Jährige Weltmeisterin, wurde in den USA gehätschelt und behütet, sie gewann ihre Titel mit einem Lächeln im Gesicht.
Das alles bringt Katarina Witt nicht von ihrem Standpunkt ab. „Die 15-Jährigen gehören in die Jugendspiele, dafür wurden diese ins Leben gerufen“, sagte sie. Aljona Savchenko, Mutter einer zweijährigen Tochter, ging noch einen Schritt weiter: „Was da passiert ist, darf nie wieder passieren. Als Mama sage ich nach solchen Bildern: Ich würde mein Kind nicht zum Eiskunstlauf schicken.“
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